Lieschen Müller und der Nominalstil (revisited)

1. Laien-Rezepte für verständliche Texte

Landläufige Rezepturen für eine bessere Textverständlichkeit lauten zum Beispiel: Verwenden Sie keine Fachwörter oder Fremdwörter oder erklären Sie diese. Schreiben Sie kurze Sätze. Verwenden Sie kein Passiv und keinen Nominalstil. Einige dieser Rezepte sind untauglich, zum Beispiel die pauschale Warnung vor dem Passiv. Aber auch das Stoppschild für den Nominalstil ist nur zum Teil berechtigt.

Zum Nominalstil heißt es in den Ratgeber-Literatur: Schreiben Sie nicht „einer Prüfung unterziehen“, sondern „prüfen“. Also nicht Verb plus Nomen; ein Verb allein genügt. Und es wird hinzugefügt: Solche „Streckverben“ (wie „einer Prüfung unterziehen“) führen zu dem berüchtigten Kanzleideutsch oder Behördenstil.

Das ist richtig, aber der Nominalstil (die „Hauptwörterei“) ist ein viel umfangreicheres System als die berüchtigten Streckverb-Fügungen. Und es hat Folgen, die Texte zusätzlich erschweren.

2. Ausprägungen des Nominalstils

2.1 Streckverb-Fügungen und ihre Folgen

Beispiel

Raub ist dasjenige Delikt, das jemand durch Entwendung eines ihm nicht gehörenden Gegenstandes unter Anwendung von Gewalt oder von Drohungen gegenüber einer anderen Person begeht, sofern die Intention der rechtswidrigen Aneignung besteht.

  • Die unterstrichenen Passagen zeigen: Es werden einige Hauptwörter verwendet. Diese Hauptwörter sind aus Verben abgeleitet: „entwenden“, „anwenden“, „beabsichtigen“. Das ist typisch für den Nominalstil: Es werden Hauptwörter verwendet, wo Verben geeigneter, weil verständlicher, wären.
  • Nominalstil-Ausdrücke enthalten häufig Ergänzungen, die ebenfalls aus Hauptwörtern bestehen („eines Gegenstandes“; „der Aneignung“). Diese Hauptwörter werden wiederum ergänzt durch weitere Ergänzungen (z. B. „ihm nicht gehörenden“; „rechtswidrigen“).

Der Nominalstil hat also häufig Folgen:

  • Die Sätze werden länger.
  • Die Informationen werden abstrakter.
  • Die Informations-Dichte des Satzes wird größer. Viele Informationen werden auf engstem Raum zusammengepresst.

Diese Eigenschaften machen es dem Leser schwerer, solche Sätze zu verstehen.

Wie könnte der Satz verbal lauten?

Jemand nimmt einem anderen etwas weg, das ihm aber nicht gehört. Und er will es behalten. Beim Wegnehmen wendet er Gewalt an oder er bedroht den anderen. Dieses Verbrechen heißt Raub.

Dieser Text ist zwar juristisch nicht mehr der gleiche wie der Ursprungstext. Er zeigt aber die Vorteile einer verbalen Ausdrucksweise:

  • Ein langer Satz von 32 Wörtern kann verbal leichter in mehrere Sätze aufgeteilt werden.
  • Die einzelnen Wörter sind konkreter als bei der abstrakten nominalen Ausdrucksweise.
  • Der Text ist leichter verständlich.

 

2.2 Formulierungen im Nominalstil sind häufig ambig (zweideutig)

Beispiel 1

Die Daten ermöglichen eine Analyse der Benutzung der Website durch Sie.

Der Satz kann bedeuten:

  • Die Daten machen es möglich, dass Sie die Benutzung der Website analysieren (= „Sie können die Benutzung der Website analysieren“).

Oder aber:

  • Die Daten machen es möglich, dass analysiert wird, wie Sie die Website benutzen (= „Sie benutzen die Website“).

Beispiel 2

Keine Ansprüche auf Tarifleistungen bestehen für Behandlungen durch Ärzte und Heilpraktiker, deren Rechnungen wir aus wichtigem Grunde von der Erstattung ausgeschlossen haben, wenn der Versicherungsfall nach Ihrer Benachrichtigung über den Leistungsausschluss eintritt.

Auch dieses Beispiel aus unserer Babylon-Studie zeigt: Nominalstil-Formulierungen können zweideutig sein. Die unterstrichene Passage „nach Ihrer Benachrichtigung“ kann bedeuten:

  • „nachdem wir Sie benachrichtigt haben“ oder aber
  • „nachdem Sie uns haben benachrichtigt haben“.

Fast alle unsere Versuchsteilnehmer haben die Passage falsch verstanden im Sinne von „nachdem wir Sie benachrichtigt haben“.

 Erstes Fazit:

  1. Nominalstil-Formulierungen können die Satzlänge, die Satz-Komplexität und die Informations-Dichte von Sätzen erhöhen.
  2. Nominalstil-Ausdrücke können doppeldeutig sein.

In beiden Fällen erschweren sie die Aufnahme und die Verarbeitung im Kurzzeit-Gedächtnis.

2.3 Das ist nur die halbe Wahrheit

Ganz im Sinne von 2.2 macht der Nominalstil auch den folgenden Satz länger, komplizierter, umständlicher und schwerer verständlich:

Sollte der Versuch unternommen werden, eine Beschattung oder Verhaftung vorzunehmen, werden die Bomben zur Detonation gebracht.

Der Folgesatz drückt den Sachverhalt verbal, damit einfacher und sicher besser verständlich aus:

Wenn Sie versuchen, uns zu beschatten oder zu verhaften, werden wir die Bomben zünden.

Damit scheinen unsere Analysen zum Nominalstil berechtigt zu sein. Aber nur scheinbar.

Wie sind folgende Beispiele zu sehen?

  • Sie hat mich schier zur Verzweiflung gebracht. Könnte hier statt des Streckverbs das einfache Verb „verzweifeln“ verwendet werden? Wohl kaum.
  • Teile der AfD haben der Fremdenfeindlichkeit eine Absage erteilt. Können wir hier das Streckverb „eine Absage erteilen“ durch „absagen“ ersetzen?
  • Können wir das Streckverb Im Jahre 1946 trafen wir dann eine schwere Entscheidung eintauschen durch das einfache Verb „entscheiden“?

Es gibt also (zahlreiche) Streckverben, die durch einfache Verben nicht vertreten werden können, weil ihre Bedeutung eine andere ist.

Das heißt: Wir müssen immer prüfen, ob die einfachen Verben wirklich das Gleiche meinen wie die Streckverben. Erst dann können wir sie verwenden. Ansonsten haben Streckverben ihre Daseinsberechtigung. Es sei denn, der Satz lässt sich bedeutungsgleich auf andere Weise ohne Streckverb formulieren.

Fazit:

  1. Das Beispiel „Nominalstil“ zeigt: Sprache ist manchmal komplizierter als es sich Lieschen Müller träumen lässt.
  2. Die genannten Nominalstil-Varianten können Computer weder ermitteln und bewerten noch überarbeiten. Und das gilt für viele Facetten der Sprache. Deshalb gehören die Analyse und vor allem die Optimierung von Texten in die Hände von Sprach-Profis. Und auch die sollten noch Ahnung von der Sache haben, um die es in den Texten geht. Aber das ist ein weiteres Thema …

Günther Zimmermann

(Wenn Sie sich mit Abschnitt 3 vertiefender beschäftigen möchten, empfehle ich Ihnen folgende Publikation: Angelika Storrer. (2013). „Variation im deutschen Wortschatz am Beispiel der Streckverbgefüge“. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften: Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache. De Gruyter.)